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HERstory - Die Vergangenheit neu beleuchten

Die Geschichtsschreibung ist von männlichen Perspektiven dominiert. Das ist ein Problem. Erstens weil es den Eindruck vermittelt, alle wichtigen Errungenschaften stammten ausschließlich aus Männerhand, zweitens weil es wieder und wieder betont: Was Männer tun ist wert betrachtet, aufgeschrieben und erinnert zu werden. 

 

Glücklicherweise fängt diese Betrachtung gerade an gehörig zu schwanken, dank vieler mutiger und schlauer Frauen (ja, auch aus der Gen Z!). Endlich! 

 

Und wie so oft, wenn sich Dinge verändern. Plötzlich ist da ein neues Wort: “HERstory” - die Reaktion darauf, dass die Vergangenheit behandelt wird, als sei sie eine rein männliche gewesen und Frauen hätten darin nur eine untergeordnete Rolle gespielt - quasi naturgegeben.

 

Erstens stimmt das nicht - wie immer mehr Wissenschaftlerinnen herausfinden - und zweitens kommen wir doch nicht weiter, wenn wir immer dieselbe olle Story erzählen: Männer allein prägten das Weltgeschehen (und das bekanntlich ja nicht immer so richtig zur gut). Gähn. 

 

Hier ein Beispiel, was der männliche Blick auf die Vergangenheit für ein Durcheinander verursacht hat: 

 

Lange Zeit gingen Archäolog*innen davon aus, dass aus der Steinzeit gefundene Skelette mit Waffenbeigaben männlich sein mussten. Ist ja logisch: Wer neben einer Waffe liegt kann nur ein Mann sein! Also haben wir in der Schule munter gelernt: Schon in der Steinzeit sind die Männer auf die Jagd gegangen und die Frauen haben Beeren gesammelt und den Kindern Abzählreime beigebracht. Doch dann kam das! Die modernen DNA-Analysen. Und da stellte sich heraus, viele der Skelette mit Waffen waren weiblich. Na, sowas aber auch! Beispielsweise in den peruanischen Anden wurde ein 9.000 Jahre altes Grab entdeckt, in dem eine Frau mit Jagdwaffen lag. Tja, dumm gelaufen. Falsche Schlussfolgerung gezogen: Nicht die Waffe macht den Mann zum Mann, sondern eben doch der Körper. Die Frauen haben eben doch gejagt. Und wer weiß, ob nicht auch Männer in die Pilze gegangen sind. 

 

Es wird also Zeit, dass wir verstehen (und weitersagen), dass unsere Art und Weise die Vergangenheit zu interpretieren ganz und gar von einem männlichen Blick geprägt ist. Dringend notwendig, dass sich daran was ändert. Nicht nur in den Geschichtsbüchern, auch in den Köpfen.

 

Das Konzept von HERstory zielt darauf ab, die Erfahrungen und Beiträge von Frauen in den Vordergrund zu rücken und das traditionelle Geschichtsbild zu erweitern, teilweise sogar auf den Kopf zu stellen. Bitte, Leute, können wir mal alle Geschichtsbücher einsammeln, einstampfen und neue drucken???

 

Es geht um mehr, als die wenigen Frauen hervorzuheben, über deren Schaffenskraft und wissenschaftlich, künstlerisch oder gesellschaftliches Wirken wir bescheid wissen. Es geht darum anzuerkennen, zu welchem Preis und auf wessen Kosten hier unwahre und einseitig geprägte Storys erzählt werden. 

 

Autorinnen und Filmemacherinnen spielen eine entscheidende Rolle bei dem Makeover dieses Narrativs von "Männer sind das starke Geschlecht - immer gewesen!"

 

Durch ihre Werke können sie vergessene oder übersehene Geschichten von Frauen erzählen, können deren Blickwinkel sichtbar machen und so das Verständnis der Vergangenheit (und der Gegenwart) bereichern.

 

Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür ist Lauren Groffs Roman “Die weite Wildnis”.

Lauren Groff - Die weite Wildnis

 

In “Die weite Wildnis” entführt Groff die Leser*innen ins frühe 17. Jahrhundert Nordamerikas und erzählt die Geschichte eines jungen Mädchens, das aus einer englischen Siedlung in die ungezähmte Wildnis flieht. Die Protagonistin, die zunächst namenlos bleibt, kämpft ums Überleben und stellt dabei die ihr beigebrachten Überzeugungen infrage.

 

Groff beschreibt ein Bild der Natur, das unfassbar authentisch ist - dunkle Dunkelheit, kalte Kälte, einsame Einsamkeit - nichts ist weichgewaschen, nichts romantisiert, es

gibt keinen sternenlicht-verklärten Blick in den Abendhimmer.  Und durch diese Natur streift ein Mensch - wird immer mehr Baum, immer mehr Erde, immer mehr Wasser, immer mehr Wildnis (7 vs. Wild ist ein Dreck dagegen!).

 

 

Besonders beeindruckt hat mich der "ungewohnte Blick":  Ein Mädchen wird ungefragt Teil der Eroberungswelle der Neuen Welt (Make America great again). Kein Jubel. Kein "Let´s go West", keine Goldgräberstimmung. Und dabei wird eine Sache überdeutlich: Eine Frau zu jener Zeit, war nicht nur gefährdet, wenn sie sich alleine in der Öffentlichkeit zeigte, sie hatte keine (überhaupt keine!) Überlebenschance ... Huch, kennen wir das nicht auch aus der heutigen Zeit? Hier kommt sogar der Vergleich ins Spiel, der in den letzten Monaten immer wieder durch die sozialen Netzwerke gegeistert ist (ich hab das beim Lesen so gefeiert!):

 

Will frau lieber einem Bären oder einem Mann alleine im Wald begegnen. Lustige Frage? Keinesfalls. Denn viele Frauen haben auf TicToc geäußert, dass ihre Chance zu überleben bei der Begegnung mit einem Bären für größer halten, als wenn sie einen Mann träfen. Der Bär greift nur an, wenn er einen Grund hat. Genau dieses Bild benutzt Groff: Das Mädchen muss um ihr Leben fürchten, als ein Mann sie von Ferne beobachtet. Und aus seiner Perspektive erfahren wir, dass er sich das Mädchen holen wird - weil es ja dafür da ist. Als aber eine Bärin den abgemagerten kleinen Mädchen-Körper entdeckt, schnuppert sie und trottet weiter ...

 

Tja, einmal mehr geistert mir beim Lesen durch den Kopf: Wer stellt die größte Gefahr dar? 

 

“Die weite Wildnis” ist ein fesselnder Roman, in dem so wenig passiert und doch so viel los ist. Es geht um Wildnis und Zivilisastion und Kolonialismus, Unterdrückung und Macht. Und es geht um den anderen Blick. Den einer Frau aus der Zeit der "Eroberung" Amerikas. 

 

Diese Geschichte ist keine der Geschichten, die wir so oder so ähnlich schon oft gehört haben. Es ist eine Geschichte, die einen wirklichen, echten Perspektivwechsel wagt. Toll! 

 

Solche Werke, wie das von Lauren Groff, sind wichtig, um das Verständnis der Vergangenheit zu erweitern und die Rolle von Frauen und deren Wahrnehmung in der Geschichte sichtbar zu machen. Sie tragen dazu bei, das traditionelle Geschichtsbild zu hinterfragen und neue Perspektiven zu eröffnen.

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